Urteil des Sozialgerichts Marburg: Eröffnung einer vertragsärztlichen Zweigpraxis

(10.2007) Das Vertragsarztänderungsgesetz, welches seit dem 01. Januar 2007 in Kraft getreten ist, stellt eine erhebliche Lockerung für die Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit dar.
Ein Ziel dieser Änderung durch den Gesetzgeber ist es, den Beruf des Vertragsarztes flexibler zu gestalten und "am Markt" wettbewerbssicherer zu machen.
So ist es u.a. einem Vertragsarzt leichter möglich, eine Filiale/eine Zweigpraxis zum eigenen Praxishauptsitz zu eröffnen und dort ebenfalls medizinsche Behandlungen anzubieten. An dieser Filiale kann der Praxisinhaber weitere Ärzte anstellen. Jedoch ist eine solche Eröffnung davon abhängig, ob sich dadurch die medizinische Versorgung am neuen Standort verbessert. Ebenso muß sichergestellt werden, daß die ordnungsgemäße Versorgung der Versicherten am Hauptsitz der Praxis nicht beeinträchtigt wird.
Eine solche Zweigpraxis muss von der jeweils zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) genehmigt werden.

Kein Freischein

Jedoch bemühte das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz seit seiner Einführung erstmals im März 2007 das Sozialgericht im hessischen Marburg. Dort beschäftigte sich die 12. Kammer mit der Klage eines hausärztlichen Internisten, der im August 2005 eine Genehmigung der zuständigen KV erhielt, über seinen Praxissitz hinaus eine Zweigstelle zu betreiben. Diese Genehmigung wurde ihm ohne Bedarfsprüfung zugesprochen. Gegen diese Genehmigung jedoch legte eine am gleichen Ort ansässige Fachärztin für Allgemeinmedizin Widerspruch ein. Daraufhin führte die KV eine Befragung der im Umfeld der Zweigpraxis tätigen Ärzte durch und nahm eine Bedarfsprüfung vor. Die KV gab dem Widerspruch statt und hob den Bescheid vom August 2005 im März 2006 auf.

In der Begründung führte sie aus, der Widerspruch sei zulässig, da die ortsansässige Fachärztin durch die Genehmigung möglicherweise in ihrer Berufsausübungsfreiheit nach Art 12 Abs. 1 GG verletzt werde. Durch die Zweigpraxis werde die Wettbewerbssituation der anderen im gleichen Planungsbereich tätigen Ärzte beeinflusst, da ein Arzt mit mehreren Praxissitzen auch mehrere Patienten erreiche. Der Widerspruch sei auch begründet. Zwar sehe § 17 Abs. 2 der Berufsordnung in Hessen vor, dass es dem Arzt gestattet sei, über den Praxissitz hinaus an zwei weiteren Orten ärztlich tätig zu sein. § 15a Abs. 1 Satz 1 BMV-Ä/EKV-Ä sei jedoch als spezielleres Recht anzuwenden. Danach dürfe eine Genehmigung nur erteilt werden, wenn die Zweigpraxis zur Sicherung einer ausreichenden vertragsärztlichen Versorgung erforderlich sei.

Am Praxissitz des Klägers seien ebenso wie in den benachbarten Stadtteilen keine Zulassungen von Hausärzten mehr möglich.
Die dort tätigen Ärzte verfügten nach ihren Angaben noch über freie Behandlungskapazitäten. Die Fachärztin werde durch die rechtswidrige Genehmigung auch in ihren Rechten verletzt.

Gegen die Aufhebung des Bescheids im März 2006 hatte der Internist im April 2006 die Klage erhoben.
Der Kläger verlangte von der KV, den Widerspruchsbescheid der Fachärztin aufzuheben.

Klageabweisung

Die Klage wurde vom SG Marburg abgewiesen.
Die KV konnte dem Kläger die Zweigpraxisgenehmigung wieder entziehen. Der Kläger hatte und hat keinen Anspruch auf Genehmigung einer weiteren Praxisstätte. Der angefochtene Bescheid vom August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom März 2006 ist rechtmäßig. Er war daher nicht aufzuheben. Das Gericht stützte sich hierbei vornehmlich auf folgende Begründungen:

(Zitat "Leitsatz")

1. Die Abgrenzung der Zweigpraxis von ausgelagerten Praxisräumen ist auch nach Änderung der Berufsordnungen auf der Grundlage des Leistungsangebots vorzunehmen. Für eine Zweigpraxis kommt es danach maßgeblich darauf an, ob der Arzt ein ähnliches Angebot in einer Praxis vorhalten will. Ausgelagerte Praxisräume bedingten demgegenüber, dass die dort angebotenen Leistungen nicht auch in den eigentlichen Praxisräumen erbracht werden (vgl. BSG, Urt. v. 12.09.2001 - B 6 KA 64/00 R, SozR 3-2500 § 135 Nr. 20). Die gilt auch nach der ab 01.01.2007 geltenden Neufassung des § 24 Ärzte-ZV.

2. „Verbesserung“ der Versorgung der Versicherten i. S. d. § 24 Ärzte-ZV n. F. ist wenigstens in dem Sinne zu verstehen, dass eine „Bedarfslücke“ besteht, die zwar nicht unbedingt geschlossen werden muss, die aber nachhaltig eine durch Angebot oder Erreichbarkeit veränderte und im Sinne der vertragsärztlichen Versorgung verbesserte Versorgungssituation herbeiführt. Es kann nicht darauf abgestellt werden, dass jede weitere Eröffnung einer Praxis bzw. Zweigpraxis das Versorgungsangebot unter dem Gesichtspunkt der Freiheit der Arztwahl „verbessert“. Hätte der Gesetzgeber dies unterstellt bzw. gewollt, so hätte er von weiteren Bedarfsgesichtspunkten abgesehen.

(Zitatende)

Die Autorin

Anke Harney hat Rechtswissenschaften an der Universität Münster und der Universität Trier studiert. Ihre Laufbahn als Anwältin begann sie in einer renommierten Kanzlei in Münster, die sich auf Medizinrecht spezialisiert hatte, und war dort von 2005 bis 2017 tätig. Seit 2009 ist sie als Fachanwältin im Bereich Medizinrecht aktiv. Ein weiterer wichtiger Meilenstein in ihrem beruflichen Werdegang umfasst ihre Mitarbeit in der Forschung am Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum von 2012 bis 2022. Seit 2022 ist Anke Harney als Rechtsanwältin bei Solidaris in Münster tätig.

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